Vom Wahrnehmen und (Be-)werten…

Haben Sie schon einmal versucht, Situationen ganz ohne eine Wertung wahrzunehmen? Das ist gar keine einfache Angelegenheit, dabei ist dies auch eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation. Wir sind permanent dabei, das Gesagte und Gehörte zu interpretieren und ihm eine Bedeutung zuzuschreiben, die es vielleicht gar nicht hat. Sich auf die reine Wahrnehmung einer Situation zu konzentrieren und alle seine Sinne zu schärfen, hilft dabei, Bewertungen und Urteile in Frage zu stellen. Was genau habe ich wahrgenommen? Was habe ich GENAU gesehen, gehört, gefühlt, gerochen und geschmeckt? Und nicht: Was habe ich GEDACHT….und muss das, was ich gedacht habe, auch wahr sein? Was ist überhaupt WAHRHEIT?

Was ist nun wirklich das objektiv wahrgenommene Verhalten und was ist eine Interpretation eines Verhaltens? Jemand der sich z. B. zurücklehnt und die Augen verdreht, könnte ausdrücken wollen, dass er sich überlegen fühlt und gelangweilt ist, er könnte sich allerdings auch über sich selber ärgern, weil es ihm nicht gelingt, seine Position deutlich zu machen. Wenn dies also in einem Meeting passiert (was zugegebenermaßen nicht selten der Fall ist), sollte man erst einmal nachfragen, wie das Verhalten zu verstehen ist, anstatt sich direkt darüber aufzuregen. „Ich sehe, Sie verdrehen die Augen?“

Eine Mutter, die ihr 4-jähriges Kind im Kinderwagen schiebt ist nicht automatisch überfürsorglich oder bequem. Sie schiebt nur ihr 4-jähriges Kind im Kinderwagen! Was wissen wir denn, was es damit auf sich hat? Vielleicht hat sich das Kleine einen Fuß verknackst, vielleicht hat es Fieber, vielleicht ist es gerade sehr eifersüchtig auf sein kleines Geschwisterchen und braucht mehr Zuwendung als sonst. Vieles ist denkbar, aber wird von uns gar nicht in Erwägung gezogen. Wir sehen ein Verhalten und sind direkt beim Urteil. „Guck dir das mal an!“

Natürlich ist es auch wichtig, dass wir bestimmte Vorannahmen haben, denn diese bringen eine gewisse Struktur und ordnen für uns die Welt. Wenn wir einem Menschen begegnen, der mit geballter Faust, weit aufgerissenen Augen und zusammengebissenen Zähnen schnell auf uns zuläuft , ist es sicher nicht so schlecht, wenn unsere Vorannahme uns in Alarmbereitschaft versetzt und wir vielleicht in Deckung gehen, weil wir annehmen, der (scheinbar) wütende Mensch könnte uns etwas antun. Dennoch sollten wir uns immer bewusst sein, dass wir mit unserer Vorannahme falsch liegen KÖNNTEN.

Die Interpretationen eines Verhaltens führen auch oft in der Kommunikation zu Problemen. Wenn der eine sagt: „Der ist auf mich losgegangen!“, sagt der nächste: „Der hat ihn bedroht“, und wieder ein anderer: „Der wollte ihm was antun.“ Das hört sich erst einmal ähnlich an, aber das sind sehr unterschiedliche Aussagen! Die Polizei ist es gewohnt, eine Wahrnehmung von einer Interpretation zu unterscheiden. Wer schon häufiger mit der Polizei zu tun hatte, merkt schnell, dass Polizisten nachbohren und wirklich versuchen, die sachlichen Fakten herauszufiltern, die reine Wahrnehmung OHNE Interpretation. Das ist schließlich extrem wichtig, wenn es um das Erhellen eines Tathergangs geht und später eine Verurteilung oder ein Strafmaß festgelegt werden soll. Spätestens, wenn man einmal als Zeuge geladen war, stellt man fest, dass es nicht so einfach ist, nur Wahrnehmungen zu beschreiben. (Ich war darin bis zu meiner NLP-Ausbildung, die sich stark mit Wahrnehmung beschäftigt hat, wirklich schlecht….)

Nicht nur Situationen und Verhalten, auch Sprache und Kommunikation sind nie eindeutig und lassen Spielraum für Interpretation. Wir hören Untertöne, stellen Vermutungen an, unterstellen Böses und sind schließlich wütend auf unser Gegenüber. Der andere reagiert mit Unverständnis, denn er ist gänzlich missverstanden worden. Hier hilft es einfach, direkt nachzufragen. Ein einfaches: „Wie meinst du das?“ kann da schon helfen. Und, es ist deutlich erfolgversprechender, als sich selber den Kopf zu zerbrechen, wie er oder sie es gemeint haben könnte! Besinnen wir uns mehr darauf, Dinge einfach wahrzunehmen, ohne sie direkt zu be- oder verurteilen. Das macht uns achtsamer im Umgang mit anderen und mit uns selbst.