Mit der Kälte eines Insektenforschers

Ich hatte einiges erlebt in meiner Zeit als Schulsozialarbeiterin und hatte kein Problem mit aufgebrachten Eltern und auch mit Vorwürfen oder Verzweiflung konnte ich gut umgehen und blieb ruhig, freundlich und souverän. Allerdings tat ich mich schwer mit Menschen (ehrlich gesagt meistens Männern…), die sich, so war mein Eindruck, selbstgefällig zurücklehnten, mich von oben herab inspizierten und versuchten, mich durch Zynismus und Provokation herauszufordern. Dieses Verhalten brachte mich regelrecht auf die Palme.

Vielleicht kennen Sie das auch, es gibt da ein Verhalten, das Sie triggert und das bei Ihnen großes Unbehagen auslöst. Durchaus möglich, dass der Grund hierfür in ihrer Kindheit liegt, wie so oft! Aber das ist heute nicht unser Thema. Über die Jahre hinweg lernte ich: Jedes Verhalten ist nichts weiter als Überlebensstrategie. Der Mensch tut das, was er im Laufe seines Lebens gelernt hat, um so gut hindurch zu kommen. Er benutzt Methoden, die ihn in anderen Situationen weitergebracht haben und ihm das Überleben gesichert haben. Jeder lernt nun im Laufe seines Lebens etwas anderes. Der eine lernt schon als Kleinkind, dass er mit einem Lächeln am weitesten kommt, der andere, dass er Erfolg hat, wenn er seinem Gegenüber die Schaufel über den Kopf zieht. So macht jeder andere Erfahrungen und entwickelt seine ganz eigenen Strategien, auch Kommunikationsstrategien.

Nun haben wir aber oft das Gefühl, dass viele erlernte Verhaltensweisen eigentlich kontraproduktiv sind und dem oder der Betreffenden eher schaden als alles andere. Ausgerechnet solche Verhaltensweisen sollen eine Überlebensstrategie sein? Ja, auf unerklärliche Art und Weise werden sie ihren Zweck erfüllen. Vielleicht hat der „arrogante“ Vater im Laufe seines Lebens gelernt, dass er sich mächtig fühlen kann, wenn er zynisch und provokant auftritt, dass er so seine wahren Gefühle wie Angst und Unsicherheit verbergen kann, dass andere in seiner Gegenwart Fehler machen oder sich klein fühlen und er umso größer… Vielleicht hat das „verhaltensauffällige“ Mädchen gelernt, dass es mit seinem Verhalten endlich etwas Beachtung erfährt, auch wenn es eigentlich nur negativ sanktioniert wird. Wir wissen es nicht.

Wenn Sie sich vor einem Verhalten, das sie verunsichert oder richtig wütend macht, schützen wollen und wenn Sie fair und souverän bleiben wollen, gucken Sie sich Ihr Gegenüber gut an. Betrachten Sie sein Verhalten mit der Kälte eines Insektenforschers. Finden Sie es einfach nur spannend, was da geschieht, betrachten Sie es emotionslos, neugierig und ohne Wertung und erkennen Sie: Das ist seine Verhaltensstrategie um zu überleben! Das hat mit mir gar nichts zu tun…